Rekonstruktion des Massakers, das ausschließlich aus der Sicht der Opfer geschildert ist. Manchmal muss Kino eben auch wehtun, unangenehm sein und unerbittlich, es muss einen an Orte mitnehmen, die man im Leben nicht besuchen will. Ein solcher Film ist "Utøya 22. Juli". Und auch wenn ich ungern den Begriff "wichtig" für einen Spielfilm verwende - was bedeutet das schon? -, halte ich es für angemessen, ihn hier anzubringen. Denn Poppe gelingt etwas Wichtiges mit seiner Rekonstruktion des Terroranschlags vom 22. Juli 2011, bei dem insgesamt 77 Menschen, 69 davon vornehmlich Kinder und Jugendliche auf der Insel Utøya, ums Leben kamen: Er entreißt die Tragödie der Inszenierung des Täters. Im Film bleibt er ungenannt und wird auch nur zweimal kurz und aus der Entfernung gezeigt - auch hier soll sein Name unerwähnt bleiben. Weil es darum geht, den Fokus auf die Opfer zu richten. Nach einer kurzen Einführung mit Archivbildern der Explosion eines Sprengsatzes in der Innenstadt Oslos, die so aussehen sollte, als handele es sich um einen Anschlag islamistischer Terroristen, um die Polizei des kleinen Landes Norwegen in die Hauptstadt zu locken, schwenkt die Handlung in das Ferienlager: In den nächsten 85 Minuten wird der Film ohne erkennbaren Schnitt in einer einzigen langen Einstellung bei den Schülern bleiben. Obwohl die Hauptfigur Kaja und ihre Tortur fiktiv sind, beruft sich Erik Poppe auf genaue Beschreibungen Überlebender , um den Zuschauer so hautnah, wie es im Kino möglich ist, miterleben zu lassen, wie es sich wohl angefühlt haben muss an diesem Tag, während des 72 Minuten währenden Angriffs des Einzeltäters dabei gewesen zu sein, die endlosen Schüsse gehört zu haben und ums Leben gelaufen zu sein. "Utøya 22. Juli" ist kein voyeuristisches Spektakel. Man sieht nicht, wie Menschen von Schüssen durchsiebt werden. Man erlebt nur Chaos und Todesangst und Verzweiflung mit, während man der 15-jährigen Kaja dabei folgt, wie sie versucht, inmitten des Terrors ihre jüngere Schwester zu finden. Oft genug verharrt der Film mit seiner Hauptfigur in Verstecken, dass einem Zeit bleibt, ein Verhältnis zu finden, wie man sich fühlt, dass man diesen Film ansieht, ob es in Ordnung ist, ein derartiges Ereignis nachzustellen. In diesem Sinne ist "Utoya 22. Juli" näher dran an "Son of Saul" als an dem formal vergleichbaren "Victoria". Es ist auch nicht wichtig, ob dieser Film sein Publikum findet, zumindest außerhalb von Norwegen ist wohl ziemlich egal. Es ist wichtig, dass er gemacht wurde. Dass man über ihn spricht. Und dass man die Opfer nicht vergisst.